Freitagsgedichte (56)

Ich behielt Recht: Es wäre besser gewesen, den "Ratgeber" gleich ohne die ursprüngliche Strophe 2 zu lesen. Sie verführte nur zu abwegigen Fragen. Hier die bereinigten Fassungen - beide zweistrophig ...

Ratgeber für angehende Lyrikpreisträger


Willst du ganz unverstanden bleiben,
musst du moderne Lyrik schreiben.
Dem Dichter ist das Wort gegeben,
um sich vom Denken abzuheben.
Was jeder gut verstehen kann,
ist sicher irgendwie profan.
Zu dem, woran sich alle laben,
kann jeder auch ne Meinung haben.

Und wirst du dann vor Scham mal rot,
mach weiter so, bald bist du tot.
Merkt erst die Nachwelt, du schlugst Schaum,
dann stört´s als Engel dich wohl kaum.
Dann dichtest du den dümmsten Schrott,
und wer versteht´s nicht? Richtig: Gott.  

Himmlisches


Sehr schwülstig reimt er „Augenstern,
ich habe dich von Herzen gern.“
Dabei … die beiden wissen schon,
ein Stern treibt meistens Kernfusion.
Er steht zum Glück in weiter Ferne.
Hautnah hätt´ ihn wohl keiner gerne.

Sind zwei romantisch und besessen,
sind Astro und Physik vergessen.
Da zählt nur eins in großer Eil,
sie will ihn nackt, er ist so geil.
Sie bleiben nächtens lange munter,

und holn sich manchen Stern herunter.  

Unter alten Herren


Vielleicht war ich am Samstag noch von „meiner“ Donnerstagsemanze für das Thema sensibilisiert. Auf jeden Fall mochte ich über den Scherz, wenn es denn überhaupt einer gewesen sein sollte, nicht lachen: Nachdem ein 30-köpfiger Vorstand mit drei beigemischten Frauen (eine davon mit prominenter Beziehung zur Vereinslegende) gewählt war, ging es um die Wahl der einzeln zu Wählenden. Die Vertreter nach §26 BGB waren schon gewählt, eine der drei Frauen war dazugewählt, da wurde ein Mann zur Wahl vorgeschlagen mit der Begründung, es bedarf eines Ausgleichs (wörtlich weiß ich es nicht mehr) der Geschlechter. Ich konnte da, obwohl ich den Herrn überhaupt nicht kannte, nicht zustimmen – zum Preis, die einzige Nicht-Ja-Stimme gewesen zu sein.
Der Rechenschaftsbericht des Genossen Professor Rolf Berthold war in Inhalt in Form beeindruckend positiv. Und doch blieb aus seinen vielen Vortragsseiten ein Satz übrig, der unglücklicherweise auch später nicht aufgenommen wurde: (wieder sinngemäß): Die Geschichte lasse sich nicht vorwärts drängen.
In der Unbedingtheit der Behauptung eine Katastrophe. Wie viele Erläuterung trägt Marx zusammen, um zu einer vergleichbar skurrilen Formulierung zu kommen, nämlich dass sich die Geschichte nur Aufgaben stelle, die sie auch lösen könne. Als Absage an voluntaristisches Vorpreschen gedacht, ist sie in ihrer Substanz extrem gefährlich: Wer bestimmt denn wann, wann die Geschichte soweit ist? Marx selbst nutzte eine verständliche Logik: Im Nachhinein haben wir gesehen, dass bestimmte Revolutionen erfolgreich waren. Der Entwicklungsstand der Produktivkräfte war ihren Zielen gemäß. Also wars wohl Zeit. Wer aber nennt uns mittendrin den Augenblick? Ein Klub weiser alter Professoren? Man darf mir doch nicht die Sorge verbieten, einmal alt geworden zu sein (wenn auch weniger weise und bestimmt nicht Professor) und mir dann sagen lassen zu müssen, dass wir wohl UNSEREN Moment verpasst haben …

Ich hatte mir für den Tag etwas vorgenommen: Da ich zwar eine „alte“ Zusage von Dr. Klaus Steiniger als „Rotfuchs“-Chefredakteur per Mail hatte, eine längeren Text zur „Gemeinschaft der Glückssüchtigen“ als Leserbrief veröffentlicht zu bekommen, immerhin als Diskussionsanregung m.E. wertvoll, nicht bei der DDR stehen zu bleiben, sondern nach unseren Zielvorstellungen neu zu fragen, und es war nichts geschehen, sah ich im Verteilen eines Flyers die einzige Möglichkeit, noch Aufmerksamkeit zu erreichen. Ich eilte also, die Flyer auf die Sitze zu legen. Fast fertig wurde ich dann „aufgegriffen“. Ob das denn abgestimmt, also erlaubt sei. War es nicht und fast hätte ich schuldbewusst den Kopf gesenkt. Allerdings sei ein Beschluss gefasst worden, es generell nicht zu erlauben. Eine Frage wäre alöso gegenstandslos gewesen. Im verstopften kleinen Vorraum sei es erlaubt, mein Ziel aber unerreichbar. Nachdem ich entfernt war, wurden die Flyer entfernt. Ein verschwindend kleiner Teil erreichte allerdings einen Empfänger, wie sich nachher herausstellte, denn Vertreter aus Dresden, Rostock und Schwerin sicherten im persönlichen Gespräch zu, das Thema wenigstens insoweit zur Diskussion zu stellen, dass die Frage diskutiert würde, ob ich denn einzuladen sei …
Mit der „Wut der Verzweiflung“ bestürmte ich nach der Maßregelung mit den Flyern unsern Klaus Steiniger persönlich und er versicherte mir a) glaubhaft, dass er sich an den Mailwechsel noch erinnerte und b) dass seine Zusage weiter gilt i.S. „aufgeschoben ist nicht aufgehoben“ - die Zahl der Leserbriefe übersteigt eben die der Veröffentlichungsmöglichkeiten um das mehr als Sechsfache (meine Rechnung). Also Geduld.
Bestimmte erhoffte Gesichter entdeckte ich nicht, und dass ich so lange nicht mehr bei einer Berliner Veranstaltung dabei gewesen war, rächte sich auch: Der Regionalgruppen-Vorsitzende konnte mein Gesicht nicht (mehr) zuordnen.


Wiljo Heinen traf ich zweimal. Zuerst am Verlagsstand in jenem Vorraum, dann beim Kuba-Tag im Cafe Sybille. Grins: Gelegentlich muss man darauf eingestellt sein, dass ganz etwas Anderes herauskommt, als man sich vorher dachte. Des herrlichen Herbstwetters wegen war eine Rundumsicht auf dem Dach des Gebäudes in der ehemaligen Stalinallee mit fachkundigen Erläuterungen ein richtiger Genuss. Dass ich Jürgens Marina wegen mich nicht so verloren fühlen brauchte, war auch angenehm … und nun habe ich wenigstens einmal an einem Mujito genippt ...  

"Zeit der Kirschen" - bedenkliche "Identität" und wie ich vorm Damenklo eine Sexisten-Abreibung bekam ...

Wer noch nie aufm Klo des BAIZ gewesen ist, der hat noch eine echte Bildungslücke. Das BAIZ Ecke Christinen- / Torstraße ist zumindest für moderne Berliner Linksalternative Pflicht – und umstritten … versteht sich … aber das gehört dazu.
Gestern nahm nun das Schicksal seinen Lauf, war weiblich und hat bis heute keinen Namen.
„Zeit der Kirschen“ ist eine Truppe, die sich eigentlich vorgenommen hat, monatlich eine besondere Veranstaltung auf die Bühne, also ins Hinterzimmer zu bringen (da ist die Bühne). Die Veranstaltung sollte Kirschen-Leute und Gäste vereinen und Literatur, Theater, Performance- und andere Künste als Ensemble. Im Idealfall alles unter das Dach eines Mottos passend. Gestern hieß das Motto „Identitäten“ und der im Wirrwarr basisdemokratischer Unverantwortlichkeiten mit der Organisation „Betraute“ (einfach: Einer muss es ja machen und wer sich nicht wegduckt, ist selber schuld) stand plötzlich vor dem Problem von grassierenden Krankheiten und Unpässlichkeiten der im BAIZ-Plan Aufgenommenen. Keine Sorge: Ein Programm kam trotzdem zustande und wenn es auch nicht gewohnt überfüllt war, so gab es doch Zuschauer und -hörer.
Irgendein Teufel hatte mich geritten, vom trainierten eigenen Gedichtprogramm abzuweichen, weil um die Mittagszeit der Probedruck von „Der lebende See“ eingetroffen war, und dieses Teufelchen hatte dann gefüstert, die Erzählung „Und welcher nun bin ich?“ passt doch zum Thema wie das Bier in die Kehle von Thekenstehern. Da noch Künstler zum Veranstaltungsbeginn fehlten, sollte ich a) meinen Auftritt teilen und b) den längeren zuerst anbieten. Teufel eben: So kam da Prosastück in die Polposition ohne die Zeitvorgabe einzuhalten. Außer dem Zeitproblem, dachte ich, wäre das Stück angekommen (fehlende Trainingsrunden waren … zu merken, aber nicht schlimm). Zehn Minuten noch für nach der Pause und einen Beitrag noch und Flucht wegen Gesunderhaltungsnotwendigkeit. (Lichtinstallation und so eine Art Scherenschnittheater waren nicht total mein Ding, brachten aber im Gesamtbild Wertungspluspunkte – ich saß gerade an ungünstiger Stelle für das Licht).
Das Schicksal packte mich noch vor den Klotüren, an denen man vorbei muss, also zwischen Weiblein und Männlein, mehr bei Weiblein, weil ich noch die Jacke überziehen musste.
Erster Eindruck, typisch sexistisch: Sympathische junge Dame. Wollte mich sprechen. Und dann folgte der Verriss der Zeitreisegeschichte. Sexistische Klischees bedienend, dass es ihr weh getan habe. Das Schlimme: Im Prinzip musste ich ihr ja Recht geben: Der handelnde „Held“ ein Mann. Die zwei Frauengestalten Opfer bzw. Erduldende, noch dazu zum Klotz am Bein des Helden mutierend. Musste denn unbedingt … Also in einer linksalternativen … müsse man Anderes erwarten können. Mein Argument, dass die missbrauchende Gewalt ja „Nebeneffekt“ eines geplanten Normverstoßes sei, zog nicht. Das hätte ich als Autor ja auch anders bauen können. Ein gleichgeschlechtliches Paar von Frauen, die eine eben künstlich befruchtet, hätte es doch auch getan. Also so unmittelbar vorm Eingang des Damenklos und Leute kamen vorbei und ich hätte schon längst kurz vor Hellersdorf sein sollen, kam mir das auch richtig vor. Ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen, den Vormarsch der Emanzipation künstlerisch behindert zu haben und vielleicht war das mit der Druckfreigabe noch rückgängig zu machen … Dann fiel mir noch die Geschichte mit den Liebesflöhen ein, die den Sexualtrieb der Frauen so sehr potenzierte, dass die Menschheit daran zugrunde geht … also wenn die Kritikerin das hören würde. Gut aber da wurde ja wenigstens mit Geschlechterrollen gespielt und ich böser Autor hatte in meiner Zeitreise gar nicht daran gedacht …
Irgendwann kam ich dann doch davon. Vberdammt, ich hatte alles versäumt, um mir meine emanzipative Kritikerin für künftige Lesungen dabei zu haben. Und in den Stunden vor dem Einschlafen bis jetzt wurde mir bewusst: Die Frau, das Mädchen, die Angenehme (Sexistisch positiv Gedachtes könnte folgen) hat; indem sie Recht hat, Recht: Vielleicht hatte ich zu wenig Schmunzeln in den Vortrag gelegt. Erst die Benutzung der Typisierungen macht gerade die Pointe der Geschichte aus. Und dafür, dass die Zuhörerin die Geschichte nicht weiterdenken will und sich eine passende emanzipierte Antwort gibt auf das Ansinnen der drei Herren, die eigentlich ein, also ihr „Mann“ sind, gemeinsam mit ihr zusammen zu leben, dafür kann ich ja nix. Also wenn der Handlung nicht logisch eine nicht zu erzählende Geschichte folgt, in der eine junge Lydia Chefin für drei Herren wird, … dann bin ich wirklich nur Macho. (Was ich ja nun wirklich nicht bin.)

PS: Meine Kritikerin hatte sich als Einzige an der Rollenzuschreibung gestört. Als sie es den Anderen erklärte, stellten die fest: „Ja, stimmt. Du hast Recht.“ Das sollte uns zu denken geben.


2 Lampedusa-Gedichte zum Freitag

Keine Titanic vor Lampedusa
  
Hätte ich drei Klassen,
hätt´ ich einen Namen,
den in hundert Jahren
noch ein jeder kennt.
Doch ich bin nur illegal,
Bin ein Schiff der vierten Wahl.

Vor der Hoffnungsinsel
in Europas Süden
darf mich niemand sehen,
schwimmt kein Berg aus Eis.
Und auf mir gibt´s illegal
Flüchtlinge der vierten Wahl.

Wie sie alle reden,
wie konnt das passieren,
schuldig ist da keiner -
nur ich Schmuggelschiff.
Denn auf mir sind illegal
Passagiere vierter Wahl.

Bald bin ich vergessen.
Europa fest ummauert.
Meinesgleichen sterben
mit der Hoffnung stumm.
Schleus´ ich ja nur illegal,
Passagiere vierter Wahl.


Lampedusa II

Stacheldrahtgeflechte vom Himmel abgedrohnt.
Du Flüchtling ohne Namen du hast nur eine Wahl.
Du wirst ein Europäer, bist tot du eingesackt.
Ansonsten zahlst du Strafe, denn du bist illegal

Maximus Gauckelius, der weiß, was Inseln sind.
Deutschland, das ist keine, da kommst du niemals an.
Und legst du Rettungsfeuer, dann brat auch selber drin.
Du wirst kein Asylant sein. Und das ist gut für dich.

Ach könnt sich das nicht reimen,
dann wär es ein Gedicht.
Mit Blick auf Lampedusa

fehlt´ ihm gereimt Gewicht.

Bekanntmachung ...


Und hier ist es nun: Das erste direkt aus der poetischen Kooperation von Poeten entstandene gedruckte Werk, erschienen im Verlag Verlag neun9zig: Aus dem gemeinsamen Buch von Slov ant Gali, Gunda Jaron und Ricardo Riedlinger "Liebe ... m.b.H." je ein Beitrag der beteiligten Autoren (alles bekannte Gedichte aus diesem Blog ... dachte ich, doch zumindest, was Ricardo anging, erwies sich dies als Irrtum):



Gunda Jaron
"Schade eigentlich"

Slov ant Gali
"Nachruf"

Ricardo Riedlinger:
 "Liebe im Winter" ...