Das Freitagsgedicht (17)

versuchung

klares wasser
berauschte
wie blutender wein

umwege
dunkel
abblendlicht

warme in kalter
kalte in warmer hand
raschelmusik

wirklichkeit
findet küsse
im abschied

keuschheitsgürtel
der vernunft
schmerzt

als voyeur
lacht der nächste
winter

Sichtweisen

Wie mich meine Tochter sieht:




















Wie ich mich sehen möchte:


kein "Lyrischer Lorbeer" ...

Bielefeld, den 01.11.2011
Sehr geehrter Herr ... ,
es freut uns sehr, dass auch Sie sich an unserem Lyrikwettbewerb beteiligten. Ihr
fünfstrophiges Gedicht „Origami für Hiroshima“ war Gegenstand unserer literaturwissenschaftlichen
Begutachtung. Formal haben Sie sich für freie Rhythmen und
gegen Reime entschieden.
Inhaltlich greifen Sie die bewegende Geschichte Sadako Sasakis auf, die 1955 an der
Strahlenkrankheit verstarb und vor ihrem Tod noch 644 Papierkraniche faltete, weil
ihr eine Freundin erzählt hatte, dass ihr die Götter beim 1000. einen Wunsch erfüllen.
In Ihrem Gedicht geht es also um enttäuschte Hoffnung (auf Heilung) und unschuldiges
Leid, aber auch um die Kraft einer Bewegung und das Wachhalten von
Erinnerungen.
Dazu entfalten Sie die einzelnen Strophen selbst wie Origami, als kleine eingeständige
Einheiten, die sich trotzdem aufeinander beziehen und zusammengehören. Vor
allem das dritte Origami verbindet die beiden ersten inhaltlich und endet mit dem
schönen Symbol des Flügelausbreitens, das auch die Pose ihres Denkmals
reflektierend für die zum Engel gewordene Sadako steht.
Die vierte Strophe öffnet Sadakos Geschichte dann allgemeiner zu der Menge
unerfüllter Träume hin und bereitet das fünfte Origami vor.
Indem sich das lyrische Ich nachträglich wünscht die Atombombe mit dem
sarkastischen Codenamen Little Boy wäre nie erfunden und abgeworfen worden,
kommt die Unmöglichkeit die Zeit zurückzudrehen und Katastrophen ungeschehen zu
machen zum Ausdruck. Der 300 mal geschriebene Wunsch wird (durch Tränen)
verwischt. Die Aussage ist damit eindrucksvoll vermittelt.
Etwas verstörend und unvermittelt kommt hingegen der englischsprachige Hinweis
auf die noch erwerbbare domain sadako.org daher. Soll hier dem Leser eine
Möglichkeit zur Internetrecherche aufgezeigt werden, oder ein konkretes Projekt
angestoßen werden? Wie auch immer. Ihr Wettbewerbsbeitrag ist ein Teil einer
wichtigen Erinnerungskultur und spricht die Emotionen des Lesers an. Ihr
Grundanliegen ist klar vermittelt und soll durch eine Veröffentlichung in der
Anthologie „Lyrischer Lorbeer 2011“ und einem bemerkenswerten 38. Platz
Unterstützung erfahren.
Mit besten Wünschen für Ihr weiteres literarisches Schaffen
grüßt Sie Ihr Lorbeer Verlag

aus dem Anschreiben:
" ...Insgesamt haben wir 433 regelkonforme Einsendungen aus 12 verschiedenen Ländern erhalten. Neben zahlreichen Beiträgen aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz,erreichten uns auch einzelne Gedichte aus Polen, Russland, Finnland,Ungarn, den Niederlanden, Frankreich, Spanien, den USA und Israel. Die jüngste Teilnehmerin wurde 1999 und die Älteste im Jahr 1927 geboren.
Damit ist unser internationales Lyrikprojekt ein toller Erfolg lebendiger dichterischer Vielfalt geworden. Gut 180 Gedichte haben den Sprung in die angekündigte Anthologie gemeistert. An etwa 250 Teilnehmer müssen wir leider Absagen versenden. Die Autoren der besten 50 Gedichte und die Siegertexte werden in Kürze auf unsere Homepage allgemein bekannt gegeben. ..."

Das Freitagsgedicht (16)

Himmlische Demokratie?

Weit offen
das Himmelstor.

In der einst
so heißen Hölle
sitzen Sieger bis heute
und werfen unsere
Dollarnoten
ins Lagerfeuer.
Ihr Spiel
geben sie
nicht auf.
Noch
sind sie sicher,
dass wir anderen
bezahlen.


Auf der Casting-Show
Universum sucht den Superstar
mault Kandidat Gott,
er habe sich extra
den Bart halb abrasiert,
doch des Fürsten
Jury findet,
er schöpfe
trotzdem nicht genug
Quote.
Außerdem
sei der Werbespot
für Rasierklingen
bereits vergeben.
An homo sapiens.


Grüßeritis

Als ich erstmals von der süddeutschen Art, sich mit "Grüß Gott" zu grüßen, schwankte ich: War das nun Größenwahn, dem Höchsten besonders nahe zu stehen, oder Boshaftigkeit seinen Mitmenschen gegenüber? Sinnvoll wäre so ein Gruß eigentlich nur, wenn man dem anderen einen früheren Tod als sich selbst bescheinigte. Der müsste dem Hirten der entfleischten Seelen dann einen Gruß bestellen, dass man auch noch kommen wolle. Das Makabre daran ist allerdings die Wechselseitigkeit ...
Heute weiß ich, dass die Leute da unten das nicht böse meinen. Wahrscheinlich wohl eher im Sinn von "Die Besten holt er sich zuerst ...

Geburtstagskummer

Es dämpft die Lust an Feierzeit,
wirst du geplagt von Übelkeit.

Geschnupf und Husten machen immer
das Missvergnügen noch viel schlimmer ...

„Die Bücherdiebin“ oder vom Sirenenruf des Künstlers


Lieber Alois, gerade das war das Letzte, was du mir vor deinem Tod hinterlassen hast. Ein Buch, über das du mit mir hattest diskutieren wollen. Deine Meinung stand schon fest: „Die Bücherdiebin“ von Markus Zusak erschien dir als heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis. Du, der du selbst schriebst, hattest dich, fasziniert von der Kraft der Wörter, noch einmal total begeistert. Ich gebe zu, anfangs folgte ich dir in den Strudel. Denn in einem hattest du Recht: Was den Umgang mit Sprache angeht, setzte das Buch neue Maßstäbe. Bis auf unbedeutende Ausnahmen ist darin etwas Unglaubliches gelungen. Dort, wo ein „normaler“ Schriftsteller charakterisierende Eigenschaftswörter benutzt hätte, verwendete der Autor Metaphern und mitunter in sich absurd erscheinende Sprachkonstruktionen, die beim Leser das Gefühl, um das es jeweils geht, nicht benennen, sondern erzeugen. Ich war einfach bereit zu weinen, wenn Zusak das wollte.
Erst allmählich schälte sich etwas Deprimierendes heraus: Der Autor hat sein Thema missbraucht. Ob beabsichtigt oder nicht – er verbreitet eine gefährliche Ideologie auf eine gefährlich einschmeichelnde Weise.
Der Plot ist relativ einfach, obwohl die Verzweigtheit einander berührender Handlungsstränge das Ganze zu einem echten Roman macht: Der Tod erzählt die Geschichte eines deutschen Mädchens in den Jahren 1939 bis 1943 einschließlich der Menschen, mit denen sie in Berührung kommt. Die Handlung beginnt auf der Fahrt zu ihren Pflegeeltern, als ein „Handbuch für Totengräber“ für sie zum letzten Andenken an den verstorbenen jüngeren Bruder und die Mutter wird, und endet mit dem Tod der in ihrer Straße in einer Kleinstadt nahe München wohnenden Mitmenschen und Freunde.
Eigentlich kann es nur um das Leben von Menschen im Faschismus gehen. Die Wahl des personifizierten Todes als allwissender Erzähler und des Alters der Hauptheldin – neun Jahre zu Beginn, vierzehn am Schluss – schafft eigentlich breitestmöglichen erzählerischen Spielraum. Auf dem Weg vom Kind zur frühreifen „Frau“ könnte das wissbegierige Kind uns an Erkenntnisgewinnen teilhaben lassen und notfalls kann der ewig Allgegenwärtige uns zurückhaltend den Rahmen vermitteln, der den Horizont des Mädchens übersteigt. Beides bleibt in extremem Einfühlungsgefühl stecken.
Mir graut es davor, jemand, der dieses Buch gelesen hat, könnte nachher sagen, er hätte den Faschismus besser verstanden. Denn künstlerisch gut verpackt bleibt ein Gedanke übrig:
„Wir waren alles Opfer – Adolf Hitler ist es gewesen!“
Dass der von den Pflegeeltern versteckte, Monate lang isoliert lebende jüdische Möchtegernfaustkämpfer alles auf die eine Person des „Führers“ fixiert, ist ein gut nachzuvollziehendes und gestaltetes Bild. Dass dem aber kein wie auch immer geartetes Gegenbild beigestellt wird, lässt glauben, der Autor sieht das auch so oder – noch schlimmer – will, dass die Leser das so sehen.
Die Art der permanenten Bedrohung durch „den Krieg“, besonders natürlich das Zelebrieren der psychischen Leiden des Mädchens, als sie nacheinander ihre Familie und Freunde als Opfer der Bomben erkennen muss, macht das Buch sogar für „Neonazis“ zumutbar: Vom Gefühl her erweckt es das Wort „Bombenholocaust“ zum Leben. Dieser Eindruck wird – wenn auch wahrscheinlich unbeabsichtigt – dadurch noch bestärkt, dass der junge Jude – im Gegensatz zu den lieben Deutschen – (dank !?) Dachau überlebt hat.
Ich kann mich natürlich nicht zurückhalten, etwas dazu anzumerken, dass der leibliche Vater des Mädchens ein Kommunist gewesen sein soll. Im Zusammenhang mit dem Gesamtroman wirkt das so, als hätte der Autor irgendwo gehört, das sei eine wesentliche Opfergruppe unter dem Faschismus gewesen, wichtiger als Zigeuner oder Zeugen Jehova, also muss das Wort vorkommen. Dass das Mädchen dem Sinn des Begriffs nicht nachgegangen sein sollte, erscheint mir unter ihrem Niveau – bis hin zum Infragestellen offizieller Antworten. Der Autor ist feige genug, sie nicht einmal in ihrem erbeuteten Buch der Wortbedeutungen nachschlagen zu lassen. Überhaupt scheint der Autor jede Berührung mit geistigem und sachlichem Widerstand gegen das System zu scheuen. Sofern jemand aufbegehrt, so tut er dies naiv bis dumm und selbstmörderisch. Aus Angst, eine seiner Figuren könnte ernsthaft nachdenken, lässt Zusak den Rudi rechtzeitig von Bomben töten. Allein bei ihm hätte die Liebe zu dem Mädchen, also sein Handeln aus Liebe, zum bewussteren Nachdenken führen können. Geradezu erschreckend die Mühe, die sich Zusak gab, um das menschliche Handeln des Pflegevaters, also dass der den jungen Juden verbirgt, hinter der germanischen Treue, ein einmal gegebenes Versprechen einlösen zu müssen, zu verbergen.
Man schlägt das Buch zu. Ein anständiger Mensch hat seine Träne im Knopfloch: „Ach, die Ärmste!“ und dann … Nichts!
Da erwacht dann doch mein Widerspruch. Heulen ist gar nicht so schlecht, Mitfühlen, wenn Menschen auf eine Weise miteinander umgehen, zu der man selbst vielleicht gar nicht in der Lage wäre. Aber darf sich Kunst darauf beschränken? Vor allem Wortkunst, die Zusammenhänge umfassend darstellen könnte? Gut, bei jedem progressiven Kunstwerk bin ich traurig, wenn die „Botschaft“ zu vordergründig daherkommt. Aber dafür gleich eine „Botschaft“ zu transportieren, es hat alles keinen Sinn, wir waren alles Opfer usw.?
Wer schreibt, hat eine große Verantwortung. Durch seine Kunst bereichert er seine Leser im Fühlen und Verstehen. Dem wurde das Buch nicht gerecht. Im Gegenteil: Ein Verlag verdient daran, Lesenden Schlafsand zwischen die Gehirnwindungen zu streuen … Also weinen wir noch ein wenig vor uns hin … und suchen dann nach klug Machendem …
In Wikipedia hat das Buch einen eigenen Artikel bekommen. Dabei ist besonders erschreckend, dass der Erfolg des Werkes als „Jugendbuch“ hervorgehoben wird – angeblich neben „Das Tagebuch der Anne Frank“ zu stellen (http://de.wikipedia.org/wiki/Die_B%C3%BCcherdiebin ) Dies ist dann mindestens böser Vorsatz. Für die Zielgruppe ist es ideologische Indoktrination mit dem Ziel, junge Menschen von jeder praktischen Form des Widerstands abzuhalten.